Vorwort:
Die Zeiten sind hektisch. Die Schlagzahl im Berufs- wie im Familienleben wird immer höher. Ohne Rituale des Innehaltens zwischendurch könnten sie den Takt nicht halten, begründen heutzutage selbst Bundesminister, dass sie Auszeiten vom aufgeheizten Alltag benötigen: die Latte-macchiato-Pause im Büro, die Pause vom Aktenstudium am Abend, das Wochenende auf dem Lande. Entschleunigung heißt das Wunderwort in Zeiten, in denen uns die digitale Kommunikation immer und überall erreichbar macht. Die Einsicht, die richtige Geschwindigkeit für unser Leben erst zurückerobern zu müssen, setzt sich plötzlich bei vielen durch: Immer mehr Menschen genehmigen sich, zumindest zeitweise den Abschaltknopf zu drücken und Ruhe einkehren zu lassen.
Und hier kann für immer mehr Zeitgenossen die eremitische Lebensweise ins Spiel kommen, die Kunst nämlich, sich von der ständigen Hetze ganz in die Stille zurückzuziehen. Also nicht nur beim Latte-macchiato durchzuatmen, sondern ernst zu machen mit der Idee, aus dem täglichen Hamsterrad auszusteigen. Sich asketisch nur auf das Nötigste zu beschränken. Die Einladung zur Langsamkeit wirklich anzunehmen. Und möglichst dabei auch die Vermessung des Ichs zu leisten.
Aber Moment einmal: Waren Eremiten nicht diese exotischen Sonderlinge, die in einer Art Folklorekulisse in einsamen Berghütten und auf malerischen Felsen den Tag nur versunken im Gebet verbringen? So sieht zumindest das gängige Bild aus, das uns über diese Lebensform gerne durch den Kopf spukt. „Das Spektakuläre am eremitischen Leben ist, dass es ganz unspektakulär ist“, sagt dagegen mit der Bonner Schwester Benedicta eine Vertreterin der modernen Einsiedlerzunft. Eine, die der Definition der Römisch-Katholischen Kirche gemäß ihren Alltag schon durch Beten und Büßen dem Lob Gottes und dem Heil der Welt weiht. Die dabei aber in ihrer Klause zwischen Himmel und Erde trotzdem ein Mensch aus Fleisch und Blut geblieben ist. Die ihre Arbeit verrichtet, die Kontakte mit anderen Menschen pflegt, ja seelsorgerisch für sie da ist.
Dieses Buch hat sich auf die Suche nach den heutigen Formen des schon jahrhundertealten Eremitentums gemacht und 33 Vertreter aus dem deutschsprachigen Raum aufgespürt. Und siehe da: Die Klischees waren fast alle überholt. Heutige Einsiedler fanden sich nämlich keineswegs nur an Kirchen und Kapellen, sondern durchaus auch im Zirkuswagen, im Hochhaus um die Ecke oder im Schäferkarren auf der grünen Wiese. Es tauchten Eremiten auf, die sich keiner Religion, sondern dem Elementaren verpflichtet sahen. Die meisten dieser gar nicht so sonderbaren Menschen waren auch bereit, sich über die Schulter schauen zu lassen und sehr persönlich Auskunft über ihre Lebensphilosophie zu geben.
Wenngleich die Kontaktaufnahme, der Prozess, Vertrauen für das Buchprojekt aufzubauen, nicht immer leicht war. „Schließlich breite ich mein Innerstes vor Ihnen aus“, hieß die erste ausweichende Antwort von Anthon Wagner, dem Eremiten von der Schwäbischen Alb, den die Philosophie in den Schäferkarren führte. „Wir haben alle eine große Scheu. Wir wollen nicht auf dem Präsentierteller sein, uns nicht in den Vordergrund spielen. Das, was wir leben, haben wir laut Paulus in einem irdenen Gefäß. Das ist zerbrechlich. Das muss man hüten und schützen“, gab anfangs Schwester Benedicta zu bedenken. Sie lasse sich auf das Projekt jedoch ein, sagte sie dann, „denn es ist für mich wichtig, dass so ein Buch erscheint, damit das ein Zeichen für die Welt ist, dass Gott wie vor Tausenden Jahren noch Menschen beruft.“
Das Buch möge also einen Einblick in eine nur auf den ersten Blick fremde Welt geben, die zum Nachdenken über das eigene Leben anregt.
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1. Kapitel: Mitten im Leben stehen
Beginnen wir gleich mit einem Paradox. Heutige Eremiten sind Menschen, die mitten im Leben stehen. Nicht nur vom Alter, sondern auch von der Geisteshaltung her. Sagt Schwester Benedicta, die Frau, die jetzt seit acht Jahren über den Dächern von Bonn in einer alten Klause lebt. Sie muss es wissen. Sie kennt viele ihrer „Kollegen“. Schwester Benedicta ist eine der Initiatorinnen eines ersten Treffens von deutschsprachigen Eremiten aus sechs europäischen Ländern, das 2010 in der Erzdiözese Freiburg eine in jeglicher Hinsicht bunte Schar an Menschen zusammenführte.
Die 33, die kamen, waren auch aus Österreich, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Tschechien angereist:
Einsiedler in strengem kirchlichen Habit oder in legeren Jeans, in unauffälliger Straßenkleidung oder mit orthodox anmutendem Gewand unter dem Rauschebart. Das Treffen verlief so positiv, dass
sie allesamt nun kontinuierlich alle drei Jahre ihre Erfahrungen mit ihrer auf den ersten Blick so eigenartigen Lebensform zusammenlegen wollen. Sie sind sozusagen die Kerngruppe heutiger
deutschsprachiger Eremiten, also laut Wortsinn der „Wüstenbewohner“, die mehr oder weniger abgeschieden von der übrigen Gesellschaft
leben....
Michaelskapelle mit Eremitage, Bonn-Bad Godesberg. Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Schwester Benedicta ist eine kleine Frau mit freundlichem, offenem Gesicht, die sich seit 2006 in der schon Jahrhunderte zuvor genutzten Klause am Godesberg sozusagen zwischen Himmel und Erde zurückgezogen hat. In ihrem kleinen Hof verströmen das Zitronenbäumchen und der Olivenstrauch hier am Rhein fast mediterranes Flair. Durch die Beine der 66-Jährigen schlüpft Momo, die zugelaufene Katze, die allein das Leben der Einsiedlerin teilt. Eine Mini-Küche, ein Zimmerchen mit Bibliothek, eine Ecke zum Schlafen und unter dem Giebel eine klitzekleine Kapelle mit einem Kruzifix, vielen Ikonen und Kerzen: Das ist die Welt, die einer heutigen Stadteremitin zum Leben reicht. Hier ist sie sich allein genug. Diese Welt liegt aber nur ein paar Meter von einem der Bonner Touristenmagneten, der pittoresken Godesburg-Ruine, entfernt. Das Rheinpanorama fotografierende Japaner, im Burgrestaurant feiernde Gäste, auf dem Burgplateau sonnenbadende Spaziergänger: Alle sie stören nicht. Schwester Benedicta ist zwar räumlich nah am pulsierenden Leben, aber auf ihre Art gleichzeitig weit entfernt.
Wie eben auch die anderen heutigen Eremiten, die ihr Zuhause nicht nur in einsamen Almhütten, sondern auch in der städtischen Mansardenwohnung oder im ausrangierten Zirkuswagen gefunden haben. Deren erstes Treffen 2010 habe bislang natürlich nur eine ganze Reihe von denjenigen zusammengeführt, die als Ordens- oder Diözesaneremiten letztlich unter den Fittichen der Kirchen verblieben sind, ist von Schwester Benedicta zu erfahren. Beim nächsten Treffen 2013 wolle man durchaus auch die sogenannten freien Eremiten willkommen heißen, hofft die Einsiedlerin. Wobei es schwierig sein dürfte, an diese „Kolleginnen und Kollegen“ überhaupt heranzukommen.
Aber ist Eremit zu sein und nicht nur vom Alter her mitten im Leben, also auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, wie Schwester Benedicta sagt, nicht an sich schon ein Widerspruch? Stellen wir uns unter leibhaftigen Einsiedlern nicht per se exotische Sonderlinge vor, die in einer Art Folklorekulisse in einsamen Berghütten und auf malerischen Felsen den lieben langen Tag nur fromm ins Gebet versunken sind? Sehen wir vor unserem geistigen Auge nicht todernste, befremdliche, ja weltfremde Mitmenschen, die noch nie Teil der Gesellschaft waren und die bis auf weiters mit ihrer Umwelt abgeschlossen haben? So die gängigen Klischees.
Schwester Benedicta in der Michaelkapelle, Bonn. Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Schwester Benedicta allein lebt schon den Gegenentwurf. Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in eine rheinische Familie hineingeborene Frau steht mit beiden Beinen fest in der Realität und ist dazu mit dem für die Region so typischen handfesten Humor gesegnet. Als 20-Jährige trat sie in einen aus Italien stammenden Servitinnen-Orden ein. „Mir war schon als junges Mädchen klar, dass ich diesen Weg gehen wollte.“ Doch im Laufe von fast vier Jahrzehnten als Schwester in Krankenhäusern und Kirchengemeinden, also mitten im prallen Leben mit allen seinen Freuden und Leiden, habe sie den Ruf, ja die Einladung Gottes gespürt, Eremitin zu werden, und das als Endfünzigerin auch ihrem Orden vermitteln können. „Und dieses Leben erfüllt mich seit Jahren zutiefst.“
Schwester Benedicta hatte also, wie es die Eremiten untereinander formulieren, sozusagen ihren Heuwagen schon eingefahren, als sie sich von der Gemeinschaft absonderte. Man werde nicht als Eremit geboren, erläutert die 66-jährige Ordensfrau. „Das wird dir nicht in die Wiege gelegt. Ein Stück Weg dahin hat jeder.“ Meistens seien es Leute um die 40, bei denen der Weg gelinge, Leute mit Lebenserfahrung. Es gebe aber bei weitem nicht nur Ledige, die wie sie den Weg über einen kirchlichen Orden genommen hätten. Sie persönlich habe ja schon 38 Ordensjahre „auf dem Buckel“ gehabt und sei dann reif fürs einsiedlerische Leben gewesen. „Nein. Es gibt auch Väter und Mütter unter den Eremiten, es gibt Geschiedene.“
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Die hätten irgendwann an einer Kreuzung ihres Lebensweges einen Ruf verspürt und seien ihm nachgegangen. „Und das ist selten ein Damaskus-Erlebnis, dass man vom Pferd fällt und plötzlich weiß: Jetzt musst du den Weg gehen. Nein, meist ist das eine Entwicklung, ein Prozess.“ Und es gebe Eremiten, die vom Pferd gefallen seien, die aber erst langsam realisiert hätten, dass ihr Leben so nicht weitergehen könne, beschreibt es die Bonner Stadteremitin.
Und dann grenzt sie ein, dass die Entscheidung, in Stille zu leben, auf keinen Fall eine Flucht bedeuten dürfe. „Das wäre widersinnig. Da fällt dir die Decke ganz flott auf den Kopf. Denn du kannst nicht mehr fliehen. Du kannst nichts mehr auf andere abwälzen. Du musst dich dir selbst stellen, deiner Eitelkeit, deinem Stolz.“ Als Eremit sei man nur sich selbst ausgesetzt. „Und Gott“, fügt die Bonner Einsiedlerin von ihrer Warte aus hinzu. (...)
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